The Centre


Sie war jung und freundlich, für ei­ne Spanierin ziem­lich hoch­ge­wachsen, ihr goldblondes Haar und ihr haselnuss­brau­­ner Blick weck­­ten mein Vertrauen. Sie hieß Claudia. Ich war nicht si­cher, ob ich mich in einem Flirt befand oder in ei­­ner un­wahr­schein­lich kunstfertigen Kommunikationsstra­te­gie.

 

Unsere erste Begegnung dauerte wenige Minuten. Claudia war Mit­­­­­arbei­te­rin einer Mietlobby und sprach mich auf einer jener Ver­anstaltungen an, bei der sich der Business-Style der Euro­pä­ischen Kommission und der NGO-Style imagebewusster Kon­zerne zu Höhepunkten einer Phraseologie der Nachhaltigkeit vereini­gen. An jenem Tag wussten ein hochrangiger Kommissionsbeamter und Vertreter der Unternehmen Carrefour und TetraPak nur Gutes übereinander zu sagen. Ich bekam eine Energiesparlampe ge­schenkt.

 

Claudias Veranstaltung war Teil der Reihe: “More than 150 key sta­­keholders in­vite you to take a week to change to­mor­row.” Mit­­hilfe eines Be­griffs, der aus der Betriebswirtschaft stammt, hat die Kom­­mis­sion weit mehr als 150 solcher „An­spruchs­­­­­trä­­ger“ entdeckt. Sta­ke­holder ist der Win-Win-Begriff der Sai­son. Wer noch kei­ne Stakeholder hat, sollte sich rasch wel­che be­­sor­­­­­­gen.

 

Claudia war attraktiv, sie neigte zum Erröten. Ihre Firma lob­by­­iert für brutale Fast-Monopole wie Goog­le, gleich­zeitig nann­­te sie sich eine „Verteidigerin von Men­schen­rech­ten“. Dann sah ich ihre Visitenkarte. Die Mietlobby hieß „The Cent­re“, symbolisiert durch my­­s­tisch in­­­einander ver­schlun­gener Ringe. Ich muss­te un­be­dingt dort hin.

 

Meine Anfrage war wohl etwas flammend for­mu­liert, je­den­falls sagte Claudia mit der Randbemerkung zu, dass sie seit sie­ben Jah­ren mit ihrem Freund zusammen sei, glücklich. Ich traf an ei­nem späten Nachmittag vor „The Centre“ ein. Es war ein altes Brüsseler Bürgerhaus in bester Lage, die riesige blaue Centre-Fahne mit den verschlungenen weißen Ringen flatterte im Wind.

 

Eine anmutige schwarze Elfe führte mich über die enge Treppe hin­auf. Sie wies mir im ersten Stock einen Klubsessel zu und ver­­schwand. Claudia ließ mich warten. Ich war allein. Ich fühl­­te mich unangenehm fremd. Als wäre ich in eine Sekte gera­ten, die mich gar nicht wollte.

 

Ich ent­fern­te mich vom Platz. Im Foyer des ersten Stocks war al­­les Wichtige an­ge­schrie­ben: „Forum“ führte zu den Men­schen­rech­ten, „Con­sul­­tan­cy“ zum Geld, „Air“ zum Fenster, „Water“ auf ein Örtchen. Appetithäppchen waren vor­­be­rei­tet, für die Haus­­runde des Abends. Ich schlich an ein Prosciutto-Röllchen he­r­­an. Plötz­­lich knarrte der grün bespannte Holzboden laut, am an­­­de­ren En­de des Raums. Ich kehrte in den Besprechungsraum zu­rück.

 

Dann kam Claudia. Sie lächelte wie beim ersten Mal, wir plau­der­ten in den Klubsesseln. Claudia erwies sich geradezu als Pro­totyp der Brüsseler Spezies Mensch: Studium am Europa-Kol­leg in Brü­g­­ge, Europarecht, Freund kennengelernt. Arbeit im Pres­­se­dienst des Eu­ro­­pä­i­schen Parlaments, Medienkontakte ge­sam­melt, seit­her in „The Cen­tre“. Behütetes katalonisches El­­tern­­haus, der Va­ter „ein großer Architekt“.

 

An jenem Werktag hatte Claudia Abgesandte einer Agrar-Or­ga­ni­sa­­tion mit Journalisten zusammen­gebracht. Unbezahlten Einsatz für af­­rika­ni­sche Kin­­dersoldaten und Klinkenputzen für Tetra­Pak, das sah sie kei­neswegs als Kontrast. „Unser Input ist sehr wert­voll für die Institutionen.“

 

Als das Gespräch einigermaßen nett wurde, sprang Claudia auf. Da war also kein Flirt, sie musste „einen Health Check der Ag­rarpolitik fertig schreiben“. Sie ent­ließ mich in die ex­klu­si­ve Hausrunde.

 

Man saß an einem Konferenztisch, jeder hinter sei­nem Na­mens­schild, und britische Liberaldemokraten for­der­ten den Euro für Groß­­britannien. „I salute your ef­forts“, rief ein Mr. Watson ei­­­nem Mr. Stevens zu. Ich genoss das Englisch der Gentlemen, bin ich doch sonst dem Englisch nichtbritischer Eu­ro­kraten aus­­­gesetzt, das im Bemühen um Eleganz immer et­was zu lang ge­rät.

 

Mr. Anderson, der britische Chef von „The Centre“, moderierte. Am näch­­sten Mor­gen, im Eu­ropäischen Parlament, schlossen sich die Ringe. Mr. Anderson moder­ierte schon wieder, und zwar eine gro­­ße Prä­sen­­tation des euro­pä­ischen Om­buds­manns. Und der eu­ro­pä­ische Om­­­budsmann, ein agiler griechischer Professor, konn­te auch schon auf Stakeholder verweisen.