Es war letztlich ein Ortsname, der mich in den Fall Denisa Šoltísová hineinzog. Es begann damit, dass ich als Österreicher, der in der Slowakei lebt, von einer jungen Slowakin las, die man tot in einem österreichischen Fluss fand. Die Tote war nackt. „Vor ihrem Tod wollte man sie vergewaltigen!“, titelte die größte slowakische Zeitung.
Denisa Šoltísová starb im Januar 2008. Die oberösterreichischen Behörden schlossen den rätselhaften Fall sofort ab, ohne Obduktion, als Selbstmord. Die danach in der Slowakei durchgeführte Obduktion ergab Spuren von Gewaltanwendung. Das war im Februar 2008, seither besteht Verdacht auf Mord. Slowakische Zeitschriften und Fernsehsender berichten laufend.
In Österreich herrscht Stille. Der Name Denisa Šoltísová kam in österreichischen Medien noch nie vor, und bis auf die lieblose Notiz eines Regionalblatts, die von einer namenlosen slowakischen Selbstmörderin handelte, hat sich in Österreich keiner interessiert.
Die Stille erstaunt, übte doch die Verstorbene in den letzten anderthalb Jahren ihres Lebens einen Beruf aus, der spätestens seit dem Wahlkampf 2006 die politische Debatte beherrscht: Denisa Šoltísová war eine von 40.000 meist illegalen und meist slowakischen Pflegerinnen, die in Haushalten meist gut situierter Österreicher „24-Stunden-Pflege“ leisten.
Ich habe noch nie über einen Kriminalfall geschrieben und hielt ich mich nicht für den Richtigen. Dann aber blieb mein Auge an diesem Ortsnamen hängen, am Heimatort der Toten: Ratkovská Lehota. Ein 70-Seelen-Dorf in der südlichen Mittelslowakei, in der Region Gemer, die für die höchste Arbeitslosenrate der Slowakei steht, für Armut, Abwanderung, Investorenflucht und für einen Roma-Anteil von 25 Prozent.
Man kann Ratkovská Lehota unmöglich kennen, das europäische Autobahnnetz ist in jeder Richtung hundert Kilometer entfernt, doch war ich eben erst durchgefahren. Auch wenn es unpassend klingt - ich hatte mich diesen Sommer in Gemer verliebt.
Ich hatte mich besonders in das kleine Hochland zwischen Revúca und Rimavská Sobota verliebt, nur über langwierige Serpentinen zu erreichen, in ein altes Land aus Laubwäldern, Bachtälern und Weiden, in die alten Dörfer mit fünfzigjährigen Ladenaufschriften, freistehendem Glockenturm und hundertjährigen Häusern, in die knorrigen Gesichter der Fußgänger, in das ortstypische Haus mit „Gánok“, einer überdachten, im Freien begehbaren Längsseite, abgeschlossen mit einer Säule.
Was ich auf zwei sehr beschaulichen Hochland-Fahrten wahrnahm, war nicht die übliche Dualität von slowakischem Dorf und separiertem Roma-Ghetto, sondern ein altertümlicher, bukolischer, vor den Augen der Welt verborgener Roma-Staat. An der Armut dieses Staats bestand kein Zweifel, manches Haus verfiel, Wirtschaftsleben war nirgends, und ich sah Kinder auf dem rostigen Eisenboden einer Bachbrücke Teppiche waschen.
Jedoch schien mir, als hätten seit jeher nur die langsam wandernden Roma in das unaufgeregte Hochland gehört, als wären sie dort immer schon in der Mehrheit gewesen, als atmeten sie dort oben freier und leichter als anderswo. Ratkovská Lehota liegt mittendrin.
Im Juli 2008 trat ich eine andere Reise an. Es war die Route der weißen 29jährigen Hochschulabsolventin Denisa Šoltísová, zuletzt wohnhaft in einer mittelslowakischen Bezirksstadt, zuletzt gesehen in der Winternacht vom 19. Januar, als sie durch eine oberösterreichische Bezirksstadt irrte, in Unterwäsche und ohne Schuhe.
Die Welten der Pflegenden und der Gepflegten liegen 700 Kilometer auseinander. Die Arbeitslosenrate in Gemer ist 27 Prozent, in Oberösterreich drei Prozent. Die Einkommen in Oberösterreich sind das Vierfache von Gemer. Fortwährend pendeln Kleinbusse zwischen Ost und West, organisiert von Pflege-Agenturen, gefüllt mit Pflegerinnen. Üblicherweise teilen sich zwei Pflegerinnen einen Pflegefall, wechseln einander alle zwei Wochen ab.
Am Anfang hatte ich nur den Namen des Orts und der Familie. Ich nahm Bahn und Bus und kam nach einer zehnstündigen Nachtfahrt im nächsten größeren Dorf an, in Ratková. Es war ein sonniger Sommermorgen, ich wollte nach Ratkovská Lehota wandern, dorthin fuhr kein Bus. Ein junger Kellner trat gerade aus der Dorfkneipe. Sie hatten die Nacht durchgefeiert, er lud mich zum Frühstück in sein Elternhaus.
Meine Gastgeber waren alteingesessene Roma, legten Wert auf ihren spanischen Gitano-Namen, zeigten mir stolz ihre pastell-pompös eingerichteten Schlafzimmer. Schnell begriff ich, dass ich mir den Roma-Staat dort oben zu romantisch gedacht hatte. Ein großer Teil von Ratkovás Roma ist erst kürzlich zugezogen, erfuhr ich, und die Zugezogenen seien „Degeschi“. Die Degeschi seien „anders“, erklärten mir meine Gastgeber, „schmutzig“. Man spreche nur ungern mit ihnen, in der Kneipe hätten sie Lokalverbot.
Verblüfft lernte ich, dass die zum slowakischen Nationalsport gewordene Immobilienspekulation selbst die Degeschi ergriffen hat, die als „Hundeesser“ gebrandmarkte Unterkaste am Bodengrund der Gesellschaft. In der Hauptstadt Bratislava hat sich der Wert von Plattenbau-Wohnungen seit der verzwanzigfacht bis verfünfzigfacht, während in Gemer Dörfer wie Ratková ab einem gewissen Punkt aus dem Immobilienmarkt kippten. Offiziell meist gar nicht mehr angeboten, sind die hübschen Häuser mit Gánok für 3000 Euro zu haben. Die großen Degeschi-Familien verkaufen ihre Wohnungen in der Ostslowakei und kaufen Häuser in Ratková. Von der Differenz leben sie einige Jahre.
Ein Rom aus Ratková brachte mich für Benzingeld nach Ratkovská Lehota, in sei¬nem knatternden alten Skoda. Die Roma wussten, wo die unglückliche Familie Šoltís wohnt, „die haben ein großes Haus“. Wir hielten direkt davor. Ich kam unangekündigt, Herr Šoltís stand vor dem Gartenzaun. Ich stellte mich auf Slowakisch vor: „Ich bin ein österreichischer Journalist. Sie wissen bestimmt, warum ich komme.“ Als hätte er mich seit Monaten erwartet, führte er mich ins Haus.
Das Haus war ein schnörkelloser Neubau im Ortskern, groß hätte ich es nicht genannt. Herr Šoltís bestätigte mir, was ich den Statistiken im „Atlas der Roma-Gemeinden“ bereits entnommen hatte: In dem kleinen Hochland ist Ratkovská Lehota das letzte weiße Dorf.
Das Haus war bürgerlich-schlicht eingerichtet. Im Wohnzimmer hingen zahlreiche Geweihe, denn Herr Soltís hatte gejagt, als Förster in einem Staatsforst. Später war er selbständiger Holzhändler gewesen, das war nicht gut gegangen, dann arbeitete er für eine große deutsche Versicherung. Er hatte ein schweres Beinleiden.
Im Wohnzimmer hingen mehrere Fotos der Tochter, darunter zwei Mal das mit dem offenen Lachen, welches die slowakischen Medien immer zeigen. Herr Soltís schleppte sich an seinen Computer, hochgerüstet für die Aufklärung dessen, was die Familie Mord nennt. Laut Obduktionsbericht wurden in Denisas Körper mehrere Medikamente gegen Krankheiten gefunden, an denen sie nicht litt, zum Zuckerkrankheit und Gicht, und laut Gerichtsmediziner kann die Kombination der Medikamente erklären, warum die junge Frau in der letzten Woche ihres Lebens phasenweise desorientiert war. „Jemand muss ihr die Medikamente dort zugeführt haben“, sagte ihr Vater, „eines der Medikamente ist in der Slowakei gar nicht erhältlich.“
Er wies auf weitere Ungereimtheiten hin: Jemand müsse der Tochter die Ohrringe abgenommen haben, jemand müsse ihr auf einer Kopfseite die Haare abgeschnitten haben. Frau Šoltís, mit tiefen Kerben unter den Augen, von Beruf Schreiberin am Bezirksgericht, entfloh dem Gespräch immer wieder. Einmal sagte sie: „Sie hatte starke Erfrierungen an den Knien. Sie hat stundenlang knien müssen.“
Die Tochter sei „ein kluges Mädchen gewesen, ein schönes Mädchen“, sagte die Mutter, sie habe diesen Job nicht gebraucht. Denisa hatte sich eine Wohnung erarbeitet, sie konnte sich zwei Schweiz-Urlaube und andere Reisen leisten, „sie hat in Österreich nur ihr Deutsch verbessern wollen“. Es sei ihr letzter 14-Tage-Turnus gewesen, sagten die Eltern. „Sie hat in die Slowakei zurückkehren wollen.“
Zwei Tage vor ihrem Verschwinden erhielt Herr Soltís einen Anruf von seiner Tochter, um fünf Uhr morgens, das hatte sie noch nie getan. Sie habe fast geweint, erzählte der Vater, sie habe nach einem Streit mit ihrer betagten Arbeitgeberin nicht schlafen können und habe plötzlich Angst gehabt, ihre slowakische Wohnung wäre verwanzt. Einen Tag vor ihrem Verschwinden gab es noch ein Telefonat mit zuhause. Sie klang wieder wie sonst, man organisierte den Gepäcktransport für die Rückkehr.
Mein Gespräch in Ratkovská Lehota dauerte drei Stunden, es wurde immer bedrückender. „Wir spüren sie hier“, sagten die Eltern, „sie ist hier, weil sie nicht gehen wollte.“ In der Winternacht, als man Denisa Šoltísová in Unterwäsche durch die oberösterreichische Bezirksstadt irren ließ, „muss sich etwas abgespielt haben“, sagte die Mutter. „Sie muss nach Hause gelaufen sein.“
Die Eltern waren nie in Oberösterreich gewesen, aber sie hatten ein Bild. Die betagte Arbeitgeberin war ihnen aus Erzählungen als „herrisch“ bekannt. Die Familie, bei der Denisa anderthalb Jahre lebte und arbeitete, habe nicht einmal Beileid bekundet, sagte der Vater. „Sie haben sich nie bei uns gemeldet, nie, nie, nie.“ Die Mutter fasste das Vorgehen der oberösterreichischen Behörden so zusammen: „Sie haben sie in einen Sack gesteckt, ist ja nur eine Slowakin, Fall abgeschlossen, Selbstmord.“
Vor meiner Fahrt nach Oberösterreich studierte ich den Obduktionsbericht. Die Leber der Toten war angegriffen, offenbar durch längerfristige Einnahme jener Medikamente. Der Tod war durch Ertrinken eingetreten. Auch der Rest las sich gut verständlich: „Die Gewalt muss von größerer Intensität gewesen sein.“
Der Gerichtsmediziner erklärte in seinen Kommentaren, dass Blutergüsse an den Unterarmen und Schenkeln „von mechanischer Gewalt durch eine andere Person zeugen“. Die Blutergüsse seien „wahrscheinlich unmittelbar vor dem Tod entstanden“. Wenn auch die Sexualorgane keine offensichtliche Verletzung aufwiesen, „bilden die Blutergüsse von der Innenseite der Schenkel deutlich ein sexuelles Motiv nach, durch den Druck von Fingern und Auseinanderziehen der Schenkel“.
Ich las die Zeugenaussagen, aufgezeichnet von der slowakischen Polizei. Die zweite Pflegerin hatte in Denisas Zimmer ungewohnte Unordnung vorgefunden, nasse verschmutzte Klamotten, mit Grasflecken. Außerdem: „Es sah so aus, als hätte sie angefangen, für immer zu packen.“ Auch der Ex-Freund sagte aus, Denisa habe von der 24-Stunden-Pflege genug gehabt. Seine Beziehung mit Denisa war im November 2007 beendet worden. „Wir sind aber jedes Jahr auseinander und wieder zusammen gegangen“, erklärte der Ex-Freund weiter, „daher war diese Trennung nicht so tragisch.“
Kein einziger Zeuge hielt für möglich, dass Denisa Šoltísová selbstmordgefährdet sei. Der oberösterreichische Sicherheitsdirektor will jedoch gewusst haben, dass es „klare Hinweise in Richtung einer möglichen Selbsttötung gegeben habe“. So ließ sich Alois Lißl im Bericht des oberösterreichischen Regionalblatts zitieren. Es tut vielleicht nichts zur Sache, dass das BIA des Innenministeriums 2007 Ermittlungen gegen Lißl führte, wegen des Verdachts, Details aus Ermittlungen gegen Neonazis weitergegeben zu haben – an eben jenes Regionalblatt. Ein weiteres Zitat konnte ihm Familie Šoltísová nicht verzeihen: „Speziell nach einem Besuch bei ihren Eltern in der Slowakei kam die Frau völlig deprimiert zurück.“
Ich rief die Polizei an, welche den Fall im Januar als Selbstmord abgeschlossen hatte. Durch die slowakische Obduktion erzwungen, hatte die oberösterreichische Staatsanwaltschaft am 27. März neue Erhebungen angeordnet. Die Polizei teilte mir mit, sie warte seit Monaten auf die Übermittlung des vollständigen Obduktionsberichts aus der Slowakei. Ich fragte, ob man in der Zwischenzeit den Gewalttäter sucht. Ich bekam zur Antwort, der Erhebungsauftrag sei „allgemein“.
Ich fuhr mit dem Auto nach Oberösterreich. Alles Autobahn, fast bis an den Fluss, fast bis an den Fundort der Leiche. Üppige Einfamilienhäuser, doppelt so breit und doppelt so hoch wie in Gemer, auch das Alte sieht neu aus. An der Adresse des Fundorts traf ich den Anrainer an, der die Leiche als zweiter gesehen hatte. Als erster hatte sie ein Arbeiter gesehen, der an den Fluss gegangen war, wegen der damals laufenden Arbeiten am Hochwasserschutz. Es war Faschingszeit, erzählte mir der Anrainer. „Der Arbeiter hat gesagt, ich soll mir das anschauen. Er hat geglaubt, das ist vielleicht eine Faschingspuppe.“
Ich fuhr ein paar Kilometer weiter, Schnellstraße mit sprießenden Hallen, in die Bezirksstadt. Sie floriert, Oberösterreichs Erfolg wirkt anziehend, 19 Prozent der Einwohner sind im Ausland geboren.
Niemand kannte die Adresse, bei der Denisa Šoltísová 24-Stunden-Pflegekraft war, aber den Familiennamen kannte jeder. „Ah, zum Herrn Primar“, sagten die Klosterschwestern. „Ah, zum Herrn Doktor“, sagten die Nachbarn.
Ich war in meinem Land, in meinem Dialekt, und doch war ich überzeugt, dass man mir die Tür vor der Nase zuschlagen würde. Man ließ mich aber ein. Gleich die erste Auskunft weckte Zweifel, ob die Polizei endlich den Gewalttäter sucht. „Erst vor ein paar Tagen war die Polizei da“, rief die betagte Hausherrin zur Begrüßung, „er hat was von Kokain gesagt!“ Sie kannte den Ermittler bereits. Es war derselbe, der den Fall im Winter schloss.
Ich begann den Respekt zu verstehen, den die Familie in der Kleinstadt genießt. Das Haus ist groß, ohne dass es von außen groß wirken würde, und die Familie gibt sich großzügig. In der ehemaligen Ordination wohnt eine Flüchtlingsfamilie aus Bosnien. Mietfrei, behauptete die Hausherrin. Ein ganzer Kreis von Personen wird für Erledigungen bezahlt, Amtswege, Friseurin, Maniküre, Pediküre. Für die 24-Stunden-Pflege gibt man 2000 Euro im Monat aus, behauptete die Hausherrin, andere zahlen weniger. Die zweite slowakische Pflegerin, auch aus Gemer, urlaubte gerade auf dem Bergbauernhof der Familie.
Im Vorhaus hingen Geweihe, der Primar hatte früher gejagt. Obwohl sicherlich teurer, unterschied sich die schlichte Gediegenheit der Einrichtung vom Haus der Familie Šoltís nicht allzu sehr. Wir redeten im weitläufigen Wohnzimmer, mit Blick auf den Nebenraum, mit Blick auf den bettlägrigen Pflegefall, den 91jährigen Primar. Er gab keinen Laut von sich.
Er lag dort, weil seine Familie um ein würdevolles Sterben in den eigenen vier Wänden ringt, wie Zehntausende andere österreichische Familien auch. Er lag dort, weil ihm seine 85jährige Frau versprochen hatte, dass er nicht ins Pflegeheim muss. „Diese Verpflichtung bin ich eingegangen“, sagte sie, „und das muss ich durchstehen.“ Sie beklagte, dass ihr Mann nicht mehr kämpft. „Er leidet darunter, dass er nichts mehr leisten kann, und er will nicht mehr.“
Die Hausherrin war fast blind, aber agil und entschieden, wortgewandt, witzig. Ihre bläulich getönte Frisur sass perfekt, sie rauchte Zigaretten. Sie lobte überschwänglich ihre slowakischen Pflegerinnen. „Als hätte ich eine Enkelin verloren“, so sei der Tod von Denisa für sie gewesen. In den Tagen, bevor die junge Pflegerin verschwand, habe sie sich große Sorgen um das „arme Tschapperl“ gemacht, Denisa sei zu lange ausgeblieben, „einmal ist sie patschnass nach Hause gekommen.“ Denisa habe nicht verkraftet, dass ihr slowakischer Freund sie verlassen habe. „Am meisten betrübt war ich, weil sie mir nicht vertraut hat“.
Die Hausherrin konnte sich nicht mehr an alle Zeitabläufe erinnern, auch täuschte sie sich im Namen des Flusses, „aber Soll und Haben hab ich noch beinander“. An Streit mit Denisa konnte sie sich nicht erinnern. Dass Denisa weggehen wollte, war ihr neu.
Zwischendurch klopfte ein Nachbar und erfreute meine Gesprächspartnerin mit einem frisch gebackenen Kuchen. Auch der Nachbar war ein Herr Doktor, auch er war schon pensioniert, wenn er auch sicherlich 25 Jahre jünger war als der Primar. Wir haben in Österreich bereits zwei Generationen Pensionisten, dachte ich kurz.
Denisa sei „ganz a liabs Dirndl“ gewesen, fuhr die Hausherrin fort, sie habe Weihnachten bei ihnen verbracht und habe „ein slowakisches Weihnachtslied singen müssen“. Vor allem habe die junge Pflegerin „Kinderstube gehabt“. Ich fragte die Hausherrin, warum sie der Familie Šoltís nicht kondoliert habe. „Darauf hab ich gar nicht gedacht“, antwortete sie. Sie gab Gerüchte wieder, die ihr über Familie Šoltís zugetragen worden seien: Denisas Mutter sei angeblich Alkoholikerin, der Vater Versicherungsmakler mit finanziellen Problemen, er wittere in der Sache vielleicht Geld, und die Eltern seien angeblich getrennt. Ich stellte ein paar Sachen richtig. Um meine Kinderstube zu beweisen, fragte ich die alte Dame nicht, ob getrennte Eltern weniger Anspruch auf Beileid hätten.
Denisas Nachfolgerin - auch aus Gemer und vielleicht eine Romni - sprang ihrer Arbeitgeberin bei: Die alte Dame habe der zweiten Pflegerin doch 20 Euro für Grabblumen mitgegeben. Ansonsten wollte die neue Pflegerin nichts sagen, sie hatte Denisa Šoltísová nicht gekannt. Als ich aber Slowakisch mit ihr sprach, hatte sie doch eine Botschaft für mich: „So was konnte sich die Polizei nur mit einer Slowakin erlauben.“
Wenn ich von den Spuren einer Gewalttat sprach, hatte niemand in der oberösterreichischen Bezirksstadt davon gehört. Die Frau des sterbenden Primars erschrak kurz, fragte aber nicht nach. Kurz darauf redete sie wieder so, als wäre der Selbstmord erwiesen. Mein Gespräch mit einer Nachbarin verlief nach demselben Muster. Auch sie fand den Tod der Slowakin ganz schrecklich, hielt aber am Selbstmord fest und äußerte in aller Freundlichkeit die Vermutung, „dass die Eltern vielleicht was außerhaun wollen.“
Das ungefähr hat mich in den Fall Denisa Šoltísová hineingezogen. Seit ich mich interessiere, gehen mir von slowakischer Seite immer wieder Hinweise zu, etwa das Gerücht von einem schwarzen Audi, in den sich Denisa Šoltísová am Tag ihres Verschwindens gesetzt haben soll. Von österreichischer Seite bleibt es still. Vieles ist unverständlich, die Medikamente und alles, was in jener oberösterreichischen Winternacht geschah. Aber einer hat ihr Gewalt angetan, einer könnte ihr Mörder sein. Ich weiß nicht einmal, ob ihn jemand sucht.
August 2008
Erschienen im Spectrum der Presse
Vom Autor geringfügig bearbeitet