Liebeserklärung an eine Zwischenwelt

 

Der Ort, an dem ich heute lebe, erschien mir damals als ein dämonischer Gruß der Eiszeit. Damals, in der Zeit nach 1989, als wir mit der Bahn nach Osten fuhren, über die frisch vernarbte Naht des Eisernen Vorhangs, von Wien nach Bratislava, Reste von Regime und Revolution und überschminkte Slawinnen zu schauen.

Von dem Ort, an dem ich heute lebe, nahm ich damals nur den trägen grauen Bahnhof wahr, die erste Station auf slowakischem Gebiet. Kein einziges Mal fielen mir die rauschenden Birken am Bahnsteig auf, so gebannt las ich in den Gesichtern der Grenzer, untersuchte ihre Züge auf Schießbefehl und Korruption, in der Physis verbliebene Dünste fensterloser Verhörzellen, auf Normalität, Perversion und Spuren von Menschlichkeit.

Der Zug fuhr planmäßig weiter in Richtung Pressburger Hauptbahnhof. Als ich mich einmal nach hinten wandte, fiel mein Blick aus der erhöhten Perspektive des Bahndamms in eine unerwartete, erstaunliche, in eine neue Welt hinein: eine Flucht frischer Wohnblöcke, entlang eines breiten Boulevards in das Grenzland gesetzt, untypisch, geradezu römisch-mediterran in der Farbgebung. Kaum begann ich das Gesehene für real zu halten, war es dem Sichtfeld schon entschwunden.

Was sollte das sein? Eine Siedlung, fünfzehn Kilometer vor der eigentlichen Stadt -  wem sollte sie dienen? Den Mammuts der Eiszeit, erwählten Werktätigen, abgeschirmten Forschern, am Ende gar Verbannten? Ich war angezogen, angeregt, verwirrt - und vergaß es.

Über jenen Boulevard, der für die Dauer eines kleinen Zeitalters in den Unterkammern meines Bewusstseins verschüttet war, gehe ich nun seit fünf Jahren; immer wenn ich zu essen brauche; also eigentlich jeden Tag. Der Boulevard heißt Eisnerova, der Ort Devínska Nová Ves, Thebener Neudorf, Devinsko Novo Selo. Ein abgelegener Stadtteil Bratislavas, von 17.000 der 425.000 Hauptstädter bewohnt.

 

Entlang der ost-westlich verlafenden Eisnerova eine Arbeitervorstadt der späten Achtziger. Entlang der Nord-Süd-Achse Istrijská ein seit 500 Jahren von Burgenlandkroaten besiedeltes Dorf. In den hohen Gräsern der nach Norden ausgreifenden Záhorie-Ebene ein riesenhaftes Autowerk, in guten Zeiten für 10.000 Beschäftigte.

Die schaudernde Empfindung des Exotischen haben seit dem flüchtigen Blick von damals neuere und stärkere Reize überlagert. Im Frühjahr 2006 zähle ich dazu: die über Gaststätten jeder Art sich ergießende Tonsuppe minderwertigen Express-OK-Fun-Radio-Pops; die behelfsmäßige Selbstfindung einer verspäteten Nation in Eishockey und Reality-Shows; die mitternächtlich-verlorenen Streifzüge durch die lichten Hallen der Hypermärkte; die solide ummauerten Familienvillen, die an Devínskas Rändern hochwachsen; mein Entzücken über die Einfachheit des Steuersystems; der apolitische Erwerbsfleiß meiner Altersgenossen; die kulturelle Selbstverleugnung der Slowaken; die alles überwölbende Macht des Alltags selbst.

Die Ergriffenheit der Zeitenwende erfasst mich nicht einmal mehr vor dem letzten Stück des Eisernen Vorhangs, den paar Metern Stacheldraht, die mahnend an der March stehen. Das Regime hat die Systemgrenze mit kurzlebigem Material geschützt, der Stacheldraht ist längst ausgetauscht, ein beliebter Radweg führt daran vorbei. Auch auf der Landstraße, die der March zur Donaumündung folgt, muss ich mir den Gedanken erzwingen, dass sich die exzellente Straßenbeleuchtung dem Ausleuchten des Todesstreifens verdankt. Ich staune die Österreicher an, die ihre postsozialistischen Fährten mit einem unbeirrt auf Ostblock gepolten Kompass lesen. Ich habe ihn verloren.

Devínska liegt am Fuß der Devínska Kobyla, eines breit thronenden, dicht belaubten Bergs, auf den ich morgens gelegentlich ein Stück laufe. In der Langeweile des Laufens sage ich mir vor, dass es die Karpaten sind, auf die ich mich quäle, auf den westlichen Beginn des Karpatenbogens.

Wenn ich auf der auskragenden Lichtung, von der ich einen kurzen vergewissernden Blick nach Österreich werfe, nicht immer umdrehen würde, könnte ich weiterlaufen, ostwärts durch die Kleinen Karpaten, am liebsten durch die Weinberge des Südhangs, auf das kleinste Hochgebirge der Welt hinauf, von der Tatra hinunter in die Zips, in der mir Romakinder ihre Vornamen zurufen würden, hinüber zu den konfusen Ethnien der ukrainischen Karpaten, zu den hungrig picknickenden Rusinen, Ruthenen, Lemken, Huzulen; ich könnte durch die schäumende Theiß ins rumänische Maramuresch schwimmen, ehrerbietig die alten Dörfler vor ihren gewaltigen geschnitzten Toren grüßen, würde im Dauerlauf nach Transsylvanien gelangen, dem Hauptkamm bereits nach Westen folgend, schließlich aus zähneklappernd durchheulten Wolfsschluchten rennen und irgendwo, beim Eisernen Tor vielleicht, am absolut anderen Ende der Karpaten, an der Donau stehen. Das könnte ich tun. Freilich bin ich schon froh, wenn mich zwischen den Schrebergärten am Fuß der Kobyla kein Hund anfällt.

Sehen wir über die vielen kleinen und allzu kleinen nationalen Unterschiede hinweg, verschafft mir allein Devínskas architektonisches Antlitz den kostbaren Mehrwert, im frei gewählten Exil fremd zu sein. Blickt man aus dem Weltraum auf die Twin-City Wien-Bratislava, weist sich Wien mit seinen Ziegeldächern rot aus, Bratislava dank seiner Plattenbauten fast gänzlich grau.

Sollte die Geschichte des Plattenbaus endlich geschrieben, sollten die in die gleichgültige Unbegrenztheit der eurasischen Ebene gepflanzten Massive erforscht und die Städte zwischen Magdeburg und Wladiwostok nach Prototypen der Behausung beschrieben werden, gebe ich zu Protokoll, dass die schönsten Plattenbauten der Welt in Devínska stehen.

Die in schmeichelnden Rotbraun- und Brauntönen, vor allem aber in sattem Ocker gehaltenen Plattenbauten sind mit wunderlicher Weisheit verputzt - die gräulichen Schlieren, welche die Witterung seit zwanzig Jahren auf die Fassaden klatscht, tun ihrer Schönheit keinen Tort an.

Ich sehe die Bauten, welche die Slowaken „Paneláky“ nennen, durch die Glasfront des „polyfunktionellen“ Hauses, in dem ich eingemietet bin. Ich schaue auf schmal aufragende Zwölfstöcker und einen breit liegenden Achtstöcker, auf die vielgestaltig verglasten Loggien, auf die rätselhaft divergierenden Verfugungen der Platten, und ich merke auf, wenn nachts im Panelák gegenüber die Beleuchtung des Treppenhauses anspringt. In der frühen Dämmerung des Winters nippe ich an karpatischem, transkarpatischem, transnistrischem Cognac, und der im Glas schimmernde Geist aus Sonne und Frucht korrespondiert aufs Behaglichste mit den warm beleuchteten Stuben des ockerfarbenen Paneláks.

Meine Zuneigung wird nicht von allen Besuchern geteilt. „Das sind genau die Farben, die man Depressiven verordnet“, sagt meine Mutter über den Panelák meines Herzens. Eine erfahrene slowakische Staatsanwältin stellte nach kurzem Blick auf meine Fensterfront fest: „Hier gibst du ein exzellentes Ziel für Heckenschützen ab.“

Und hier haben diese Hexenmeister die Mitte Europas ausgerufen. Wenn mich irgendetwas zum Bürger der Twin-City Wien-Bratislava macht, zum vielleicht einzigen Vertreter dieser Kopfgeburt von Spezies, dann ist das meine Lage. Ich wohne einen Kilometer von der österreichischen Grenze. Es sind 15 Kilometer in die Pressburger Altstadt und 35 zur Wiener Stadtgrenze. Ich fahre 35 Kilometer nach Ungarn, 50 in die Wiener City, 55 nach Mähren. Wenn ich für einen Moment vergesse, dass mir nach Österreich die Brücken fehlen, kann ich mich mit zugekniffenen Augen für mittig halten, auftrumpfend lokalisiert im Zentrum von Mitteleuropas Mitte.

Für soviel Mitte ist es auffällig ruhig. Nur die Alarmanlagen der Autos, die tapfer heimwerkenden Nachbarn, das Kläffen der Köter dringt in die kleinstädtische Abgeschiedenheit vor. Gelegentlich gehen die öffentlichen Lautsprecher an, ein Relikt der CSSR, nun für kleinkrämerische Durchsagen genutzt. Die Frau spricht langsam, laut und deutlich, aber es kommt wenig mehr heraus als der blecherne Hall durch die Straßen mäandernder Vokale.

Die innercentropische Zwischenwelt, in der ich lebe, bedeutet in Wahrheit einen Rückzug aufs Land. Nur dass ich schnell wegkomme: 20 Minuten ins Pressburger Zentrum, 45 Bahnminuten zum Wiener Südbahnhof. Die Tragweite beider Unternehmungen ist annähernd gleich.

Der Bahndamm ist das Kino meiner kleinen Welt, es spielt mir die internationalen Verkehrsströme in Cinemascope. Bei Nacht höre ich, wie sich die langen, schweren Güterzüge des Wirtschaftsbooms über die Gleise quälen, langsam und stetig, dunkel und gesichtslos. Bei Tag ziehen rollende Galerien frisch geschraubter Autos an mir vorbei, der schnittige rote Sprinter aus Wien, der niedliche Triebwagen aus Gänserndorf, die EC-Züge aus Berlin, Prag und Budapest, schließlich der slowakische Regionalzug, der eine stumme Kundschaft in die armen Dörfer Záhories befördert, giftgrüne Waggons, die Türen in einem warnenden Orange gestrichen.

Gleich ob ich aus Wien oder Prag, durch das Marchfeld oder durch Záhorie nach Hause fahre, sehe ich schon von weitem die Devínska Kobyla, an deren Fuß ich meine Zuflucht weiß. Den runden Kuppen der Kobyla ist der Sandberg vorgelagert, steil über der March und ein Panorama eröffnend, das die Burgruine Devín enthält, die Hainburger Berge, die Stopfenreuther Au und die Marchauen, Prinz Eugens Schloss Hof, das Marchfeld, hinter der diesigen Senke Wiens den blauen Kamm des Wienerwalds und die ansteigenden Anhöhen Mährens. „Na sandbergu“, auf dem Sandberg, liegen wir im goldgelben Sand, am Strand jenes tertiären Meeres, das die Niederungen Centropes einst gefüllt hat.

Ich liebe Devínska, dieses fremd-vertraute Haupt-Rand-Zwischen-Städtchen, wo man einen Typen „Hajzel“ ruft, wenn man ihn derb beschimpft, und „Frajer“, wenn man ihn zum tollen Hecht promoviert. Ich liebe Devínska und möchte auch dieses Land lieben - wenn denn nur die Slowaken selbst es lieben würden.
 
Irgendwann wurde ich im Zentrum von Bratislava einem smarten jungen Mann vorgestellt, einem aufstrebenden Mitarbeiter im Amt des Premierministers. Als ich ihm meinen Wohnort nannte, hielt er kurz inne und fragte dann in akzentfreiem Englisch: „Du kommst aus Wien und lebst in Devínska?“

Ich habe ihm das bestätigt. Der junge Mann besann sich noch einmal kurz und sagte dann mit derselben gewandten Höflichkeit, die er mir während des ganzen Gesprächs entgegengebracht hatte: „Entschuldige, ich wollte dich nicht beleidigen.“