Ein Sommerregen

 

Wenn man 300 Mal dieselbe Bahnstrecke gefahren ist, erwartet man nichts mehr. So im Spätsommer auch ich, als ich mich gegen meine Gewohnheit in ein Abteil setzte, in dem eine alleinreisende junge Frau saß.

Die Frau dürfte, korrekt ausgedrückt, eine Angehörige der Ethnie der Roma gewesen sein. Wäre mir die Sprache der Märchenerzähler erlaubt, käme ich direkter zum Punkt: An jenem Wochentag hat mich zwischen den Bahnhöfen „Devínska Nová Ves“ und „Erzherzog-Karl-Straße“ eine schöne Zigeunerin verhext.

Sie saß in Fahrtrichtung, am Fenster. Genau genommen lag sie die ganze Zeit, die Füße in beigen Strümpfen auf den Sitz gegenüber gelagert, schläfrig ausgestreckt. Sie war schlank, trug Blue Jeans und eine enganliegende weiße Bluse. Ihr dunkelbraunes Haar war streng nach hinten gebunden.

Der Tag war mäßig schwül. Ich verhielt mich unauffällig, trank stilles Wasser. Sie warf mir einen beunruhigend langen Blick zu. Sie lächelte herüber. Dann sprach sie mich an.
 
Wir stellten fest, dass wir beide in Stadtteilen Bratislavas lebten, sie in Petržalka, ich in Devínska. Wir sprachen Slowakisch, mein rustikal montierter Grundwortschatz und ihre ungeschnörkelten Hauptsätze ergänzten sich gut. Sie duzte mich so lange, bis ich das Siezen ließ.

„Ich treffe meinen österreichischen Freund“, erzählte sie, „meinen Kameraden.“ Sie kannte ihn zwei Wochen und traf ihn seither jeden Tag, immer in Wien, nachmittags im Hotel.

Einmal hatte er sie bei Nacht in sein Haus außerhalb von Wien gebracht. Sie zeigte mir einen entwerteten Streifen-Fahrschein, um mit meiner Hilfe auf den Namen des Orts zu kommen. Ich fand den Ort heraus, ein Dorf an der March, an der slowakischen Grenze.

Sie schüttelte den Kopf: „Ist das bei Prag?“ - „Irgendwie in die Richtung.“ Sie verzog die Nase und sah mich komplizenhaft an: „Ich will ihn nicht.“ – „Du willst ihn nicht?“ - „Er ist 52, ich 27. Ich will ihn nicht.“

Sie erzählte mehr von sich. Keine Arbeit, drei kleine Kinder, wohnt bei der Mutter, Kindsvater fort. „Ich bin vereinsamt“. Draußen donnerte es maßvoll. Sie bestand darauf, dass im Gegenzug auch ich ihr mein Privatleben eröffnete. Ich zog die Abteiltür zu und musste nicht lange ausholen. Als hätte sie das alles schon gehört, nahm sie mir die Worte aus dem Mund.

Es gefiel ihr nicht, dass ich in die Slowakei gezogen war: „Österreich ist besser“. Dass ich an Spielfilmen mitgearbeitet hatte, gefiel ihr: „Ich wollte immer schauspielen. Ich bin ja schön.“ Das habe ich ihr bestätigt. Obwohl hinter ihrer Oberlippe nur ein einziger Zahn verblieben war, war sie schön.

Sie fragte mich, was eine Fahrkarte in das Dorf ihres Kameraden kostet. „Wir haben gestritten. Vielleicht holt er mich heute nicht vom Südbahnhof.“ - „Aber du willst ihn sowieso nicht.“ - „Ich will ihn.“ - „Warum?“ - „Er macht gut Liebe.“ Über das Marchfeld brach in diesem Augenblick ein Wolkenbruch herein. Unser Abteil nahm sich wie ein der Ebene entwichenes, von undurchdringlich hellen Wasserströmen umspültes Raumschiff aus.

Dieses Mal hielt ich ihrem Blick nicht stand. Ihre bloße Gegenwart wühlte mich auf. Sie hingegen schlief seelenruhig ein. Mein Herz pochte. Ich wollte sie wiedersehen. Ich musste früher als sie aussteigen, der Zug war bereits auf Wiener Stadtgebiet. Als sie kurz blinzelte, bat ich sie um ihre Telefonnummer. Sie ließ sich meine geben.

Der Zug fuhr in Erzherzog-Karl-Straße ein. Ich stand auf. „Ich will ihn nicht“, begann sie von neuem und fügte in einem sachlichen Ton hinzu: „Weißt du was? Fahren wir auf der Stelle nach Bratislava zurück!“

Das war ein Angebot. Durchbrennen, sie und ich, auf der Stelle. Ich habe ihr gedankt. Ich hatte einen Termin wahrzunehmen. Sie hat nicht angerufen.