Lange hat mich ein Ort angezogen, eine kleine Insel in einem großen Stausee. Oft fuhr ich an diesem See vorbei und sah im fernen Dunst die Insel, auf der verloren ein Kirchlein stand.
Ich war so gebannt, dass ich im Winter in der Zeitung schrieb, ich würde im Sommer zu der Insel schwimmen. Darauf meldete sich ein Leser und bot mir sein Schlauchboot an. Am Pfingstmontag 2007 hat sich mein Wunsch erfüllt, wir sind zu dem verlassenen Ort gerudert. Was ich fand, war so schön, dass ich fast nicht drüber schreiben sollte.
Die Insel liegt im südmährischen Stausee Nové Mlýny, einer Kaskade von drei zusammenhängenden Wasserflächen, die sich über 32 Quadratkilometer erstrecken. Sehr viel mehr wusste ich nicht, als wir frühmorgens das Schlauchboot aufgeblasen haben, ein hochmodernes, hundertventiliges, von Ingenieuren der US-Marine entwickeltes Prachtexemplar der menschlichen Seefahrt.
Ich wusste hauptsächlich, dass im Stausee Nové Mlýny II jedweder Wassersport verboten ist. Davon kündete die Verbotstafel, die schief vornüber gebeugt am Nordufer des durchgehend verschilften Sees stand. „Naturreservat, Betreten verboten“, stand da auf Tschechisch, „§ 34 des Gesetzes 114/1992 sb.“
Weiters wusste ich, dass der in den Siebzigerjahren aufgestaute Zusammenfluss von Thaya, Schwarzach und Igel ein Dorf versenkt hat: Muschau, bis 1945 von 700 deutschsprachigen Südmährern besiedelt.
Es hat an jenem Montag ein furchtbarer Wind geblasen. Weil der Wellengang am Südufer ruhiger schien, ließen wir das Boot dort ins Wasser, doch bald schaukelten wir wie die Nussschale im Ozean. Kurz nach dem Ablegen zog sich mein Kapitän seine orange leuchtende Schwimmweste an, und noch einmal kurz darauf hätte er die Umkehr vorgezogen. Er hat gerudert, ich suchte mit dem Steuerruder Kurs zu halten und herausragende tote Äste zu umschiffen. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, waren wir nicht Herr des Geschehens. Es hat es uns zu der Insel getrieben.
Die Landung schien schier unmöglich. Auf einer winzigen Nebeninsel kreischten hunderte Möwen über gischtumtosten Baumstümpfen. Die Insel mit der Kirche war von Schilf umgeben, dahinter zugewuchert von einer prallen Vegetation, die ich botanisch nicht benennen kann, eine Art lindgrünes Riesengras, vier oder fünf Meter hoch, den Blick auf die Kirche versperrend. Mit Mühe paddelten wir ans windgeschützte Ufer, zogen das Boot ins Schilf und bahnten uns einen Weg durch das baumhohe Unkraut, der ein paar Meter bergauf ging.
Und plötzlich war es zauberhaft. Plötzlich war es sonnig und still, kein Lüftchen hat mehr geweht. Wir standen zwischen üppig blühenden Rosensträuchern, und die Kirche lag vor uns. Eine Kirche romanischen Ursprungs, mit abgeschlagenem Putz, aber als Bauwerk intakt. Keuchend und durchnässt stolperten wir aus dem Sturm in die Lieblichkeit eines wilden Rosengartens.
Der Kirchturm war zugänglich. Geduckt stieg ich durch eine enge eiserne Wendeltreppe in den Turm hinein, dann über eine breitere Holztreppe den Turm hinauf. Ich ging langsam, mir war mulmig, mein Kapitän war lieber draußen geblieben.
Oben angekommen, unter dem intakten Turmdach, stand ich wieder im Wind, der durch die Fenster pfiff. Ein hülzerner Fensterladen lag herausgebrochen in der Turmkammer, wie das Gerippe einer gestrandeten Barke. Der Ausblick war herrlich, die Seenlandschaft, die Möwen, die Pollauer Weinberge.
Ich stieg herunter und betrat die Kirche. Sie war vollkommen leergeräumt, eine Schicht aus zerbröseltem Putz bedeckte den Boden. Gleich am Eingang lag ein behauener Stein, die Inschrift war deutsch. Ich konnte nur den Schluss entziffern: „Heiland ewiglich. 1850“.
Die Wände waren stellenweise bis aufs Ziegelwerk freigelegt, ein paar wenige Wandgemälde waren noch zu sehen, vielleicht der Muschauer Schutzheilige, der Viehheilige Leonhard. Vom Deckenfresko machte ich noch einen knieenden Engel aus.
Um auf den Chor zu gelangen, musste ich mich draußen durch dorniges Gestrüpp schlagen; der Zugang zu dem eisernen Wendeltreppchen war vollkommen verwachsen. Alle Wände des Chors waren von Besuchern eingeritzt. Meist tschechische Vornamen, „Marcela, Monika, Mira, Lenka, Radka“, aber auch „21.08. 1991: Karsten, Jörg, Uwe, Jana“. Oft waren Ortsnamen hinzugefügt, meist aus der mährischen Umgebung, und Daten: 15.07.1988, 30.07.1989, 18.03.1990. Beinahe alle Einträge stammten aus der Zeit vor 1994, als Nové Mlýny II für die Öffentlichkeit gesperrt wurde.
Die Kirche war trocken, und sie roch gut. Obwohl die Kirche kein Gotteshaus mehr ist, hatte ich nicht das Gefühl, an einem entweihten Ort zu sein. Unter all den Inschriften fand ich keine einzige, die schmähenden oder anzüglichen Charakters war. In der Kirche lag keinerlei Müll herum.
Ich zündete dort, wo einmal der Tabernakel gewesen war, eine Kerze an und ging zu den wilden Rosen hinaus, zu meinem Kapitän, der mit entzücktem Gesicht im Gras saß. Wir malten uns aus, wie das Dorf Muschau ausgesehen haben mag. Erst später sollte ich von Zeitzeugen erfahren, dass wir uns in einigen Dingen getäuscht hatten.
So hielten wir die Muschauer Insel für der Rest des Kirchbergs, doch wurde sie von den kommunistischen Machthabern absichtlich bewahrt, mithilfe der künstlich aufgeschütteten Böschung, durch deren Bewuchs wir uns geschlagen hatten. Wir wussten nicht, dass das Dach nach der Wende erneuert wurde, weil die Ziegel gestohlen waren.
Wir wussten nicht, dass das Dorf, bevor es geflutet wurde, geschleift wurde. Die tschechischen Neusiedler, die nach einer Generation das Dorf wieder verlassen mussten, trugen die Häuser selbst ab. Viele haben mit dem Baumaterial ganz in der Nähe, im Dorf Pasohlávky, ein neues Muschau gebaut. Es heißt auch so: „Nový Musov“.
Und ich kannte, als wir verzückt in der Windstille standen, noch nicht Marie Landauf, Muschauerin des Jahrgangs 1916, die mir von ihrem Dorf erzählt hat. 1960, fünfzehn Jahre nach ihrer Vertreibung nach Österreich, hat Landauf ihr mittlerweile tschechisch gewordenes Dorf besucht. Der unbekannte Tscheche, der in ihrem Elternhaus lebte, habe sie „sehr geehrt“, hat sie mir erzählt. „Er hat sich vor mich gekniet und sich mit den Worten entschuldigt: Ich muss vertschechisieren.“ Was aus ihm geworden ist, weiß sie nicht. Nový Musov hat sie nie besucht. „Es ist ein ungutes Gefühl, man ist zuhause und fühlt sich doch fremd.“
Das alles wussten wir nicht, als wir beseelt ins Schlauchboot stiegen und uns auf dieselbe Weise von der Insel entfernten, wie wir gekommen waren - durch Treibenlassen im aufgewühlten See. Wir landeten glücklich am Nordufer, genau bei der Verbotstafel, die uns als günstiger Anlegeplatz bekannt war. Wir zogen die Stöpsel aus den hundert Ventilen. Dann mussten wir nur noch die fünf Kilometer zum Auto wandern.